„Das Kriegsende in Dorfen 1945“,  Ein neuer Bericht von Franz Streibl

 

Vorbemerkungen und Würdigung:

Gut, wenn die Zeit um das Kriegsende überhaupt erinnert wird und ins Gespräch kommt.  Der Autor zeigt in seiner Vorbemerkung das Bewusstsein für die Erinnerungen eines so jungen Kindes, das erst am Ende der im Fokus stehenden Zeit eingeschult wurde.

75 Jahre und mehr in die eigenen Erinnerungen zurückzugehen ist zudem eine sehr lange Zeit. Wer über Jahrzehnte in sein Leben zurückblickt, weiß, dass die Unterscheidung zwischen real Erlebtem und Erzählten sich überlagern kann. Auch sind Erinnerungen von Haus aus subjektiv – das gleiche Erlebnis wird von verschiedenen Augenzeugen manchmal  völlig anders erinnert. Für den geschichtlich Interessierten bedeutet das: die Überprüfung der Erinnerungen sind unentbehrlich, will man sie mit historischer Relevanz weitergeben.

Franz Streibl beabsichtigt, wie er schreibt, „die Ereignisse von damals für die Nachwelt fest(zu)halten - und hier setzen unsere Fragen an.

Fragen:

Der Text ist eine Zusammenstellung von eigenen Kindheitserinnerungen während bis deutlich nach Kriegsende, von Erinnerungen anderer (wie der Autor selbst schreibt: „im Wirtshaus gehörte Geschichten“), von Vermutungen (kaum Nazis in Dorfen, nur Hitlerjungen aus dem Ruhrgebiet…), späteren Informationen (Chronik zum militärischen  Geschehen um Dorfen) und auch Entdeckungen der letzten Jahre (Bemerkungen zu den DPs). Für einen Historischen Kreis mit dem Anspruch gesicherter Erkenntnisse wäre eine Unterscheidung von Erinnerungen und Ereignissen zu erwarten. Erinnerungen gehören als solche benannt,  um sie dann mit dem heutigen Wissen zu verifizieren und zu reflektieren. Wenn dies nicht geschieht, wirkt ein solcher Text wie die vermeintlich  reale Geschichte, und die Gefahr ist nah, in eine – wenn auch ungewollte -  Verharmlosung der Geschehnisse zu schlittern. Dazu Beispiele:

Kriegsgefangene

„Es gibt Fotos von Franzosen, die sich stolz hinter dem Pflug…präsentieren. Offensichtlich kam man gut miteinander aus“. Sicher gab es Bauern, die die Kriegsgefangenen anständig behandelt haben – aber es gab auch sehr schlimme Misshandlungen, und um Ausbeutung handelte es sich ja immer. Denn die zugrunde liegende Situation war ja, dass diese Menschen gezwungenermaßen für das Land zu arbeiten hatten, das ihr eigenes überfallen hatte, sie aus ihrem Leben herausgerissen und unendliches Leid über die eigene Landsleute und Familien gebracht hatte… „sie machten sich nützlich?“ Stolz hinter dem deutschen Pflug?

„Ärger gab es nur bei deutsch-französischen Liebesbeziehungen“ schreibt Streibl. Abgesehen davon, dass „Ärger“ in diesem Zusammenhang ein ziemlich ungeeigneter Begriff ist, mussten  doch die Menschen, auch Kinder, oft bis zur Erschöpfung arbeiten und hatten keinerlei  Rechtsschutz, wenn sie geschlagen wurden:  die brutale Realität damals zeigte sich tatsächlich im Umgang mit Liebesbeziehungen zwischen Kriegsgefangenen und deutschen Mädchen und Frauen: viele Dorfener haben 1942 zugeschaut, wie ein kahlgeschorenes, schwangeres Mädchen aus der näheren Umgebung mit lauten Beschimpfungen („Speit sie an, die Sau!“), behängt mit einem entsprechenden Schild, durch Dorfen getrieben wurde. Sie saß dann eineinhalb Jahre im Gefängnis. Über das weitere Schicksal des Franzosen wissen wir in diesem Fall nichts,  von vergleichbaren Fällen wissen wir, dass die Männer genau dafür umgebracht wurden.

  • Zwangsarbeiter*innen

Zum Teil handelte es sich bei den erwähnten Kriegsgefangenen um Zwangsarbeiter, z.B. waren Hunderte von ihnen in der Fa. Meindl beschäftigt.  Sie waren nie Soldaten, sie wurden als  Zivilisten aus ihrer Heimat in Polen, der Ukraine, Russland …  viele tausend Kilometer entfernt nach Deutschland verschleppt, um ihre Kräfte hier auszubeuten, oft am Existenzminimum und darunter lebend. Zudem in  Deutschland völlig rechtlos (während für Kriegsgefangene wenigstens noch das Militärrecht galt).

Kann man heute von ihnen sprechen, ohne ihre Perspektive wahrzunehmen?  Ihre Entführung, Entrechtung, medizinische Unterversorgung, erzwungene Arbeit bei lächerlichem Lohn?

 

  • DPs in Dorfen, im speziellen jüdische DPs

waren bis ins Jahr 2011 ein völlig unbekanntes Kapitel in Dorfen. Dass es eine jüdische Blumengartenschule in Dorfen gegeben haben soll, wurde zu Anfang des besagten Jahres vom Historischen Kreis ausdrücklich verneint (Kommentar zu einem Foto, das eine Vermutung dazu nahelegte: „Das ist nicht unser Dorfen, sowas gab es hier nicht“).  Dass die Blumengartenschule eine eigene jüdische Organisation war, und die Mehrheit der DPs in Privathäusern einquartierte Juden waren, dass der Jakobmayer Sitz des jüdischen Komitees und kultureller Treffpunkt war, hat sich erst durch die im Sommer 2011 entdeckten Wandzeichnungen und die Forschungen von Dorfen-ist-bunt gezeigt. Hier kann es also nicht um Erinnerungen gehen. Nur: was hier über DPs berichtet wird, bildet die heute bekannte Wirklichkeit nicht realitätsgemäß ab: die DPs „tauchten in Dorfen auf“ – als „Fremdarbeiter“, aus dem Osten geflohen... Kein Wort, dass unter ihnen viele KZ- Überlebende waren,  die gerade übelster Folter und Tod entkommen waren, oft waren Ehepartner und Kinder ermordet worden, und andere  überlebten nur, weil sie sich jahrelang versteckt hielten. Kein Wort, dass ihre Entwurzelung und Heimatlosigkeit die Folge der deutschen Kriegsführung und Rassenideologie war.  Die Juden „siedelten sich…in Dorfen an“: klingt freiwillig und auch besitzergreifend, war es aber nicht: die Shoa-Überlebenden hatten schlicht keine andere Wahl als in Deutschland abzuwarten, bis sie in ein anderes Land ausreisen konnten. Dies wurde erst ab Mai 1948 mit der Staatsgründung Israels und der Grenzöffnung anderer Länder möglich. Man könnte genaueres mit entsprechenden Belegen in der Veröffentlichung von Dorfen ist bunt lesen. (Wie kam der Davidstern in den Jakobmayer? )

Wenn es um einen „Bericht für die Nachwelt“ geht, sollten Tatsachen und Zusammenhänge stimmig wiedergegeben sein. Auf dem Hintergrund des unermesslichen Unrechts und Leids hinterlässt dann die Geschichte über den DP-Käufer, der meinte, man enthielte ihm die verlangte Ware vor, obwohl sie wirklich nicht vorrätig war, mehr als einen schalen Geschmack. Als einzige Geschichte überhaupt zu DPs verunklart sie das Verhältnis von Opfern und Täter: wäre da nicht eher Verständnis, ja Scham angebracht, dass ein Mensch, dem jede Würde vorenthalten war, nun der Redlichkeit des Verkäufers nicht trauen kann?

„Das Elend erreichte seinen traurigen Höhepunkt….

… als die Flüchtlinge kamen“ –  wirklich – war das der Höhepunkt des Elends?

Kann man so reden 75 Jahre nach Beendigung eines Kriegs, der maßloses Unglück über unvorstellbar viele Menschen gebracht und unvorstellbare Verwüstungen angerichtet hat?

 

Macht es nicht einen Unterschied, ob ein solcher Aufsatz eines Vorstandsmitglieds des Historischen Kreises unter „persönlichen Erinnerungen etc“ eingeordnet oder aber unkommentiert als „Bericht“ auf die Homepage eines Historischen Kreises gestellt wird?

75 Jahre nach Kriegsende braucht es u. M. nach ein Bemühen, Vorgänge historisch zu belegen und zu beurteilen – also eine verantwortete Weitergabe unserer Geschichte.

"Erinnerungen sind nicht statisch; sie ändern sich mit der Zeit, manchmal so sehr, dass sie nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem haben, was sich tatsächlich ereignet hat."

aus: "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind" von Esther Safran Foer, Köln, 2020, S.12

 

Artikel im Dorfener Anzeiger vom 21.10.2020

 
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